„I and Thou (You) ‐ Here and Now“

 

Lotte Hartmann-Kottek erklärt uns dieses Grundprinzip der Gestalttherapie wie folgt:


"Fritz Perls prägnanteste Kurz‐Definition der Gestalttherapie, mit der er seine Vorgehensweise quasi in eine Nußschale verdichtete, heißt:


„I and Thou (You) ‐ Here and Now“. Abstrakter formuliert: „Beziehung und Bewusstheit“.


Die Metapher „I‐and‐Thou“ von Martin Buber steht hier Pate für Beziehung, Begegnung und Kontakt ‐ sowie für die sehr spezielle therapeutische Beziehung der Gestalttherapie:
Der Gestalttherapeut stellt dabei zunächst sicher, dass er

1) eine Basisakzeptanz zur Existenz, bzw. zum Wesenskern, des Gegenübers spürt. Er ist

2) bereit, dessen Potentiale und dessen bisherige Lebensleistung anzuerkennen (und sie im Verhältnis zu den gegebenen Möglichkeiten zu sehen). Obwohl der Therapeut

3) die Abwehr des Patienten wahrnimmt, die ihn auch trifft und benannt werden kann, interessiert er sich

4) verstärkt für den in Not geratenen, fixierten Persönlichkeitsanteil (zumeist ein Kinder‐Ich‐Aspekt), sucht empathisch dessen Kontakt, stellt sich ihm innerlich im Schulterschluss ermutigend an die Seite, läßt die ehemals unüberwindliche Situation imaginieren und verhilft 5) dem Patienten (meist mit dialogischen Rollenspiel‐ Angeboten) dazu, in diesem Schutzraum authentischere Lösungen herauszufinden. Er hilft ihm dazu, sich zu trauen sich wahrhaftiger zu zeigen ‐ und dabei zu erleben, verstanden und angenommen zu sein.


Im Rollentausch wird ganzheitliche Einfühlung und Identifizierung erprobt. Das ist mehr als Mentalisierung. Die Identifikation fördert das Unterscheidungs‐Vermögen zwischen Passendem gegenüber Nicht‐Passendem. Sie führt zu Klarheit, innerem Wachstum, Bezugsystem‐Erweiterung, achtsamerer Kontext‐Bewusstheit und Reifung. Auch das weniger Attraktive soll dabei einen Ort in der Gesamtgestalt finden dürfen. Der Perspektivenwechsel stößt den Abgleich von bisherigen Überzeugungen an. Passen sie alle noch? Den ergänzenden Gegenpol zur Identifikation bildet die Kunst des Loslassens, der De‐Identifikation mit den nicht (mehr) stimmigen Teilaspekten.
Bei strukturschwachen Patienten wird die Persönlichkeitsstruktur über die aktuelle Potentialentfaltung aufgebaut und über konstruktive Neuerfahrung gefestigt. Diese Pat. werden nicht zu ihren emotionalen Polen eingeladen, sondern auf ihre Mitte hin zentriert.
Zu Bubers Beziehungs‐ Entwurf: Das Zusammenspiel von der distanzierend‐ beobachtenden „Ich‐Es“‐Form, (die Kritik ermöglicht), und dem liebevoll‐empathisch sich einschwingenden „Ich‐Du“‐Modus, ist absolut notwendig. Nur im Miteinander können die notwendigen Feinabstufungen entstehen.
Der Kontaktzyklus beschreibt die energetische Kontaktaufnahme (nach innen und außen) durch Fokussieren von Aufmerksamkeitsenergie und Bedeutungszuweisung in spezifischen Schritten; dabei wird durch eine Kette von subjektiv hervorgehobenen Ausschnitten (Vordergrundfiguren) die subjektive Welt der betreffenden Person konstruiert, bzw. erschaffen.
Bei den typischen Kontaktschritten lassen sich oft aktuelle wie chronifizierte Muster von Vermeidungsverhalten beobachten, die krankheitswertige Formen annehmen können, ‐ ein Beitrag zur Krankheitslehre.
Der gestalttherapeutische Gesundheits‐ und Krankheits‐Begriff liegt auf der Dimension von Integration versus (unfreiwilliger) Desintegration. – (Die Sonderform der bewussten Distanzierung dient der Trauma‐ u. Krisenbewältigung.)


Übliche Schrittfolge im Krisen‐ / Wandlungsmodell:

1) Achtsame Wahrnehmung des Entfremdeten,

2) auslotende Identifizierung,

3) Kontaktaufnahme mit dem konflikthaft ausgrenzenden Aspekt und

4) dialogische Auseinandersetzung mit Rollenwechsel,

5) gegebenenfalls Ent‐Dämonisierung des Verzerrten, Sinnsuche im Entfremdeten,

6) bewusster Re‐Integration der Kernsubstanz,

7) Erprobung der neuen Identität, Nachbewertung,

8) Ruhephase (Dank).


II Das „Here‐and‐Now“ – als Tor zur Bewusstheit, ermöglicht
a) einen existentiell‐phänomenologischen Zugang (samt der körpersprachlichen Selbst‐ und Fremdwahrnehmung) mit der „experiential confrontation“, der Konfrontation mit der aktuellen Erfahrung der eigenen Reaktionen, die überwiegend aus dem Unbewussten mitgestaltet werden.
b) Die durchgehende Achtsamkeitshaltung, die sie der ZEN‐Kultur verdankt, hat die Gestalttherapie geprägt, – samt ihrem Paradoxon, „sehen, was ist, verändert“.
c) Bewusstheits‐Modulationen gelten als Instrumentarium des schöpferischen Prinzips: die hochkonzentrierte Aufmerksamkeitsenergie einerseits und die Bewusstseins‐Weitstellung andererseits ‐ sowie der „mittlere Modus“ darüber, der potentiell beides schwebend umfasst (s. Friedlaenders Indifferenzebene); die erstere lässt Bewusstseinsinhalte Gestalt gewinnen und sie subjektiv in den Vordergrund treten (ex‐sistere, hervortreten), die zweite lässt sie in den Hintergrund zurücksinken.
d) Das „Here‐and‐Now“‐Prinzip vergegenwärtigt alles Vergangene und Zukünftige, sofern es durch Resonanz aktualisiert worden ist. Vergangenheit und Zukunft werden im Jetzt stets neu vernetzt und dabei „neu erschaffen“. Dies ist eine wunderbare Chance für die Psychotherapie, sofern wir sie heilsam zu nutzen verstehen.
e) Wegweiser zu aktualisierten Konfliktfeldern. Unsere Gefühlswelt trägt polare Züge. Zwiespältiges wird meist nur an einem Erlebnispol in das Bewusstsein gelassen; Auffallendes verweist meist auf seinen Gegenpol. Das gilt analog auch bei emotional blockierten Entwürfen („unfinished business“). Besonders fündig sind dissonante, spannungsreiche Muster. Sie spiegeln aktuelle Konfliktfelder (auf einer physiologischen, intrapsychischen oder zwischenmenschlichen Ebene) wider. Wenn sie wiederbelebt und verarbeitet werden, wird das neurophysiologische Substrat aktiviert und in entwicklungsförderlicher Weise neu vernetzt. Therapie fördert ganzheitliches Sein.


III Wirkstudien‐Nachweise, Metaanalysen, Evidenz‐Basierung.
Auf die auffallend hohen Signifikanzen von Gestaltstudien hatte schon Klaus Grawe hingewiesen, der die Wirkstudien der 50 Jahre von 1934 bis 1984 erstmals metaanalytisch zu erfassen versuchte. (Grawe, 1994).
Aktuell werden in der Metaanalyse von Elliott R., Greenberg L. et al. (Lambert, M.J., ed., Bergin & Garfields Handbook for Psychotherapy Research and Behavior Change, 2013, S. 502) für die Verfahren der Gestalttherapie und der ihr nahverwandten EFT (Emotion Focused Therapy), eine Effektstärke angegeben, die im Vergleich noch um 0.53 ES über der CBT (cognitive behavior therapy) mit ihrer bereits sehr guten Effektstärke von 0.93 liegt.
Die außerordentliche Effektstärke von 1.12 – 1.42 bestätigt auch Phil Brownell, Gestalttherapie‐Forscher in den USA, in seinem Beitrag für die angesehene „Encyclopedia of Clinical Psychology“ (5. Aufl., Wiley, NY, 2014), in die die Gestalttherapie ausdrücklich als evidenzbasiertes Psychotherapie‐Verfahren aufgenommen worden ist.


IV Standort und Vernetzung
a) Für die Einbettung in die Humanistische Verfahrensgruppe verbindet die Gestalttherapie ein Welt‐ und Menschenbild, das die Einmaligkeit des Individuums und seiner Welt gelten lässt, das seinem Potential, seinen Ressourcen, Selbstdefinition, Authentizität, Selbstverwirklichung, seiner Kreativität, Würde und Wertverständnis positiv gegenüber steht und seine Achtsamkeit, Bindungs‐ und Liebesfähigkeit, Kontext‐ Bezogenheit, Verantwortung und sinnorientierte Entscheidungsfreiheit fördert.
Die Gestalttherapie versteht sich von Anfang an als eine „existential, experiential and experimential“ Vorgehensweise, Qualitäten, die zum gemeinsamen Nenner der Humanistischen Gruppe geworden sind.
In der Gestalttherapie finden sich alle Zielvorstellungen wieder, wie sie 1962 von den Initiatoren der „Human‐Potential‐Movement“‐Gruppe niedergelegt worden sind.
b) Allgemeine Vernetzung:
als gemeinsame Schnittmenge mit der Verhaltenstherapie lässt sich die gegenwartsbezogene Erfahrungsorientierung sehen, ‐ mit der Psychodynamischen Gruppe die unbewusste Konfliktdynamik, ‐ mit der Systemtherapie der Bezug zur Gestalt‐ psychologie, speziell deren Verständnis von Bezugsystem und der Teil‐Ganzes‐Relation.